Jenseits der Abstraktion

Zu den jüngsten Arbeiten Hermann-Josef Kuhnas

Es hat den Anschein, als tauche man in eine hypnotisierende Unterwasserwelt hinab, wo einem verschwommen leuchtende Wesen vor den Augen schweben und sich treiben lassen. Wenn wir uns dem Treiben überlassen, können wir zu einem Teil des Geschehens werden, in dem die Farbe sich von jeglichem äußeren Mandat befreit. Doch soll das nicht heißen, dass wir uns hier in einer Sphäre der l’art pour l’art bewegen. So “lyrisch” und spontan Kuhnas Bilder auf den ersten Blick erscheinen mögen, sind sie doch mit akribischer Sorgfalt komponiert, die Ebene um Ebene in einem disziplinierten bildnerischen Prozess sukzessiv entwickelt. Fast könnte man von “konstruierten” Bildern sprechen, bei denen jeder einzelne Bestandteil unerlässlich für die gesamte Struktur bleibt. Gleichzeitig ist der entscheidende Impuls, der diesen Arbeiten innewohnt, ganz offensichtlich eher organisch als konstruktivistischer Natur.

Die formale Strenge eines Albers oder eines Vasarely bleibt ihnen völlig fremd, wenngleich das dynamische Zusammenspiel der Farben für ihre Rezeption unerlässlich ist. Kuhnas Arbeit beginnt mit einer klaren Vorstellung von der Atmosphäre, der “Message”, oder einem Rhythmus, dem er Ausdruck verleihen möchte. Titel wie “wellenreiter” (2006), “fruits diffusés” (2008) oder “palim palim” (2009) machen den Ansatz deutlich. Bei einigen Kompositionen geht es um eine sensible Balance, andere wirken dagegen wie aufgewühlt von der Energie eines Derwisches. Während “nervöser k” (2008) einen ausladenden Tanz zelebriert, lassen Werke wie “aktiv rectangel” (2008) oder “götterfunken” (2008) uns die Bewegung eines schlängelnden Umzugs assoziieren – oder vielleicht doch eher einer Polonaise?

Die Titel sind suggestiv, nicht programmatisch, auch wenn sie uns eine klarere Vorstellung von den Absichten des Künstlers vermitteln können, indem sie uns in die Tiefen der Komposition führen, wo die Farbschichten sich manchmal wie tektonische Platten aneinander reiben und aufeinander schieben. Wir können uns die Schichtungen aber auch als ein Palimpsest vorstellen, auf dem sich Texte sukzessiv überlagert haben, doch nie ganz verschwunden sind. Der große englische Schriftsteller Thomas de Quincey verglich das Palimpsest daher mit dem Gedächtnis: “What else than a natural and mighty palimpsest is the human brain? Such a palimpsest is my brain; such a palimpsest, O reader! Is yours. Everlasting layers of ideas, images, feelings, have fallen upon your brain softly as light. Each succession has seemed to bury all that went before. And yet in reality not one has been extinguished.” Sigmund Freud entwickelte Analogien zu dem so genannten “Wunderblock”, der es Kindern erlaubte auf eine wachsbeschichtete Fläche zu schreiben und zu zeichnen und das Ergebnis anschließend wieder zu löschen, um Raum für etwas Neues zu schaffen. Auch wenn nicht mehr zu entziffern, blieben Spuren des Alten dennoch stets erhalten.

Den Strukturalisten und den Post-Strukturalisten diente das Palimpsest als Metapher für den Prozess des Schreibens selbst – und in der bildenden Kunst griffen die Künstler der CoBr-Gruppe, darunter Pierre Alechinski und Asger Jorn, auf den Terminus “Topos des Palimpsests” zurück, um ein spezifisches Verfahren der Malerei zu beschreiben, bei dem sie Landkarten, Zeitschriften und Flugtickets als Hintergrund nahmen und übermalten. Doch sind derartige Experimente mit der strengen und klassischen Maltechnik Hermann-Josef Kuhnas natürlich nicht zu vergleichen. Niemand, der das Atelier dieses Künstlers besucht, kann die Präzision übersehen, mit der Pinsel und Tuben, Tiegel und Töpfe organisiert sind – und alle dazu bereit, dem Künstler zu Diensten zu sein. Der süßlich-scharfe Duft des Terpentins in der Luft unterstreicht die Bedeutung des künstlerischen Handwerks, das hier zugegen ist. Doch trotz der Genauigkeit der Bilder, kann man sich des Gefühls nicht erwehren, etwas sei in ihren Tiefen verborgen. Von Zeit zu Zeit tauchen tatsächlich aus den unterschwelligen Strukturen Reminiszenzen an Landschaft oder Meer auf – an menschliche Anatomie sogar, wie beispielsweise in der hier abgebildeten Trilogie der “evas”. (Die erotische Dimension von Kuhnas Bildern macht einen ganz wesentlichen Bestandteil ihrer staunenswerten Vitalität aus – wie auch die Verspieltheit und der Witz, der viele seiner Kompositionen mit Leben füllt.) Es scheint, als wäre ihr wahres Thema hinter schimmernden Schleiern verborgen, wie die verführerisch lüsterne Salome. Oder erblicken vielleicht die legendäre Fata Morgana, die verschwindet sobald man ihr gewahr wird?

In früheren Arbeiten war die Figuration häufig offenkundiger, wie beispielsweise die muskulösen Akte aus der Serie “grosser akt” (1985). In “grosser roter stuhl” (1979) löst sich die filigrane Silhouette eines Stuhls fast unmerklich in die Gesamtkomposition auf, wie sie gleichzeitig aus ihr aufscheint. In Kuhnas jüngsten Werken dagegen ist das Mimetische so gut wie verschwunden. Wo dessen Spuren dennoch sichtbar sind, sind sie so subtil nur angedeutet, dass sie nahtlos mit dem Gesamtbild verschmelzen. In diesem Sinne ist das Bildprogramm zunehmend minimalistisch geworden, während die Artikulation dieses Programms eine konsequente Maximierung erfahren hat. Rhythmus, Farbgebung und Räumlichkeit sind die Eckpfeiler geworden, sogar dann, wenn sich gelegentlich ein Gegenstand vage abzeichnet. Wo das der Fall ist, sind es vor allem Landschaften, die das Auge aus den Feldern schwebender Farben herausdestilliert. Die Natur ist dem Maler eine beständige Quelle persönlichen Vergnügens und malerischer Inspiration. Selbst wenn der Titel einer Arbeit keine direkten Anhaltspunkte dafür liefert, rechtfertigt schon die Andeutung einer horizontalen Struktur dahingehende Assoziationen. Das hängt zum einen mit den Sehgewohnheiten zusammen, die wir von der traditionellen Landschaftsmalerei her kennen, wie gleichzeitig auch mit Perspektive und Proportion.

Ob nun horizontal, wie das etwas ältere Werk “halong bay” (2003) und die jüngere Arbeit “ebbe” (2009), oder vertikal, wie “roskoff” (2009), begründet die Erfahrung von Räumlichkeit eine unmittelbare Beziehung zum Betrachter. Damit ist nicht nur eine abstrakte Erfahrung der Wahrnehmung gemeint, sondern auch eine physische, bei der der Betrachter in die Atmosphäre einer Komposition hineingezogen wird. “gesäht” (2007) ist ein prägnantes Beispiel für diesen Transfer von Energie, wie auch die Bilder “sassnitz night” and “sassnitz morning” (beide 2007). Obwohl Kuhna gelegentlich auch in kleineren Formaten arbeitet, setzen die meisten seiner Bilder doch auf das, was man als menschliche Masse bezeichnen könnte. Auf dieser Weise können sie Energiefelder erzeugen, die eher zu aktivem Wahrnehmen ermutigen, als sie zu passiver Betrachtung verführen. Gerade weil diese “all-over” Kompositionen ohne Unterbrechung über die Leinwand fließen, scheinen sie sich in der Horizontalen auszudehnen. Daher sind sie weniger ein “Fenster”, durch das wir blicken, als vielmehr eine Landschaft, durch die wir uns bewegen.

Von den zahlreichen Einflüssen, die diese einzigartige Formensprache gebildet haben, sollten zwei besonders betont werden: Hermann-Josef Kuhnas leidenschaftliches Interesse für die Paläontologie und die Entdeckung des Werks von Vincent van Gogh. Die Faszination für Fossilien begleitet ihn seit seinem achten Lebensjahr und hält ihn heute noch so gefangen wie damals. Freimütig gesteht er ein, dass er einem Ruf als Gastprofessor umso lieber nachkommen würde, wenn die entsprechende Region ihm auch als Fossiliensammler interessante Ausbeute verspräche. Dem Suchen und Sammeln folgt ein systematischer Prozess des Kategorisierens, der Bezeichnung und Registrierung, der den scheinbar zufälligen Funden eine Ordnung verleiht. Die Sedimentsschichten, die er als Fossiliensammler erforscht, zeigen offenkundige Parallelen zu den Bildern, wie auch zu dem Prozess des Malens selbst. Gelegentlich spielen Titel wie “steinbruch” (2008) direkt auf diese Leidenschaft an. Kuhnas professioneller Ehrgeiz auf dem Gebiet der Paläontologie erfuhr eine wichtige Bestätigung als seine private, über einen Zeitraum von Jahrzehnten zusammengetragene Sammlung, in die Geologische Abteilung des Museums für Naturgeschichte in Münster aufgenommen wurde und er die Erlaubnis erhielt, seinem Hobby sogar in Gegenden nachzugehen, die Amateuren normalerweise verschlossen bleiben. Es kann uns daher nicht verwundern, dass die leeren Schubladen und Fächer der Sammelschränke in seinem Düsseldorer Atelier sich schnell wieder mit neuen Funden füllen – zuletzt auch solchen, die er bei einem Aufenthalt in der Provence gemacht hat.

Kuhnas Interesse für van Gogh geht auf seine Studientage zurück, als er “Die Brücke von Arles” (1888) für sich entdeckte, mit ihren Anklängen von japanischen Holzschnitten, die den holländischen Maler einige Jahre zuvor schon fasziniert hatten. Aus heutiger Sicht ist es offensichtlich, was ihn als junger Student an diesem Bild so angesprochen haben muss: die ausbalancierte Ruhe der Szene, die Leuchtkraft der Komposition und die Fragmentierung in einzelne Pinselstriche und Farbflecken, die das Auge des Betrachters zu sanft ineinander verschmelzenden Tonwerten mischt. Van Gogh war seinerzeit nach Frankreich gereist um für sich selbst und befreundete Künstlerkollegen ein “Atelier des Südens” aufzubauen und dort nach dem “herrlichen Kontrast zwischen Rot und Grün, Blau und Orange, Schwefel und Flieder” zu suchen, wie er an seinen Bruder Theo schrieb.

Allerdings wollte er sich nicht ohne eigene Nachbesserungen mit dem zufrieden geben, was die Natur ihm bot. Jedes Bild folgte einem eigenen Farbprogramm, das selbst einen grünen Himmel mit rosafarbenen Wolken in Einklang bringen konnte. “Ich entleihe der Natur”, schrieb er, “ beim Arrangieren der Farbtöne eine bestimmte Abfolge und eine gewisse Genauigkeit; I study nature so as not to do anything stupid…, doch ob die Farbe, die ich verwende, exakt mit dem übereinstimmt, was ich vor mir sehe, ist ohne Belang, so lange sie innerhalb des Bildes funktioniert.” Aufgrund der so sensibel austarierten Tonwerte, die die teils harschen farblichen Kontraste in eine harmonische Gesamtstimmung einbinden, wirken seine Bilder nie grell. Die Parallelen zu Hermann-Josef Kuhnas Umgang mit Farben sind offensichtlich.

Vielleicht gibt es noch mehr Übereinstimmungen zwischen Kuhnas Technik und der, die Vincent van Goghs Spätwerk ihren spezifischen Stil verleiht: Durch das Setzen distinkter Pinselstriche nebeneinander schaffte er eine lebhafte und lebendige Struktur innerhalb der Komposition. In Saint-Rémy, wo van Gogh in psychiatrischer Behandlung war, begann er diesem Pointillismus eine eigene Dynamik zu verleihen, indem er die Pinselstriche wellenförmig, in Kreisen und Spiralen arrangierte. Auch hier sind die Parallelen zu Kuhnas Arbeiten mehr als evident. Man könnte geradezu die These vertreten, dass, während van Gogh seine Technik unbewusst in Richtung der malerischen Abstraktion vorantrieb, Kuhna über die Abstraktion noch hinausgeht. Seine Kritiker, darunter nichtzuletzt auch der Autor dieses Textes, greifen jedes Mal aufs Neue nach Metaphern, um ihrer spezifischen Wirkung sprachlich Ausdruck zu verleihen. Sie suchen in der Kunstgeschichte nach seinen Ahnen bei den Pointillisten und nach verwandten Positionen in der zeitgenössischen Kunst, wie unter den Pixel-Künstlern Petrus Wandrey, Holger Bär und Volker Hildebrandt. Vergleiche dieser Art sind berechtigt – und manchmal sogar aufschlussreich. Und doch versagen sie angesichts der Üppigkeit und Opulenz, der Strenge und Logik, der Sinnlichkeit und Sinnenfreude, die Kuhnas einzigartiges Werk durchdringen.

David Galloway, 2009