Die zu Ende befreite Farbe

Die künstlerische Revolution von „Fauves“ und deutschen Expressionisten wird immer wieder mit dem Schlagwort „Befreiung der Farbe“ etikettiert. Die neu errungene Freiheit stößt gestisch eruptiv über die Bildfläche, sie gewinnt Stoßkraft und Richtungsenergie. Van Gogh brachte dieses Zusammengehen von farbiger Autonomie und dynamischem Pinselzug nachhaltig in die Malerei der Moderne ein.

Unter dem gleichen Etikett verläuft noch ein zweiter Strang. Farben sammeln sich nicht flächig und brachen nicht breitbahnig aus. Sie konzentrieren sich in Punkten und setzen Flecken auf, sie hinterlassen „touches“. Sie verdichten sich zu einem Gewirk, das seine Struktur der Nahsicht verweigert und auf Distanz angelegt ist. Die analytische, methodische Malhand der Impressionisten steht näher als die Malfaus der „Fauves“. Im klassischen Pointilismus haben Seurat und Signac die systematische Farberziehung geradezu demonstrativ vorgeführt.

Beide Schritte begründen die breite Basis der Malerei von Hermann-Josef Kuhna, doch im Kern knüpft er weder bei Impressionisten noch Postimpressionisten oder Expressionisten an. Punkt und Fleck sind bei ihm kein Vehikel für Licht und Schatten, keine Reflektoren, die im Tag baden. Ihnen fehlt, anders al bei van Gogh, körperliche Materialität und der Ansatz zum Relief. Sie sind, ohne jede Kruste, glatt und flach aufgetragen. Sie verzichten sogar auf die Raffinessen und Subtilitäten der peinture. Gleichzeitig vermeidet Kuhna die optische Mischung, die z.B. aus Gelb und Blau – auf der Netzhaut- Grün generiert. Selbst die Berührung mit dem zähen Farbgewühle der eigentlichen Fleckenmaler, der Tachisten in den 50er Jahren, lässt er schon sehr früh eine Episode hinter sich.

Diese Farben wirken einzig und allein durch ihre ungetrübte Reinheit, ihre volle Strahl- und Rufkraft. Sie stammen direkt aus der Tube oder von der Palette. Wo Abtönungen oder Brechungen den Klang variieren und differenziert machen, geschieht dies bereits während der Präparation. Abstimmungen sind nicht tonig graduiert, sondern kommen im Nebeneinander zustande. Selbst im dichten Farbgestöber lässt sich noch das winzigste Farbpartikel isolieren. Ein schmutziges Braun wird nicht gereinigt, sondern durch ein benachbartes Türkis ins Kostbare aufgewertet, während ein kaputtes Grün durch ein nebenstehendes, nobles Rotbraun Glanz und Lebendigkeit gewinnt. Es lohnt, diesen Umgang mit Farben durch die Ausstellung zu verfolgen. Kuhnas nobilitierende Kombinatorik geht Risiken ein, um sie gezielt zu überwinden.

Seine Farben beruhen auf ihre Wechselwirkung - das heißt auf ihrer Konstellation. Alle Kompositionen bauen auf koloristische Synergieeffekte –von fröhlicher Buntheit über wohltemperierte Abstimmung bis zu kontrastreicher Vitalität. Entscheidend ist die Befreiung jeder Farbe zu sich selbst. Nur so kann ein Zusammenspiel, Fleck für Fleck, aus der Interaktion hervorgehen. Kuhna hat das Reservoir an Akkorden, Resonanzen und (gebändigten) Dissonanzen, erweitert wie wenige. Die Beschränkung von Joseph Albers steht diesem Reichtum näher als der erste Blick glauben macht. Der ehemalige Bauhausmeister suchte seine Versuchsanordnung allerdings in der Neutralität des Quadrates. Dagegen findet Kuhna sie im Verzicht auf geometrische Einbindung und im gleichmäßigen Fleckengewimmel von Farben, die sich bis in die Ecken reiben, entzünden, pulsieren. Die Entbreitung dient einer vielstimmigen Chromatik, die mit guten Gründen immer wieder musikalische Metaphern nahe legt.

Dennoch gleichen Kuhnas Bilder keinem Orchester. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass Farben sich im Gesamtklang nicht überlagern, sonder jede für sich bleibt – und doch ein Gesamtklang sichtbar wird. Seine Stimmungen und Tempi können, Bild für Bild, höchst verschieden sein. Sie reichen, um ein letztes Mal musikalische Analogien zu bemühen, vom Adagio bis zum Allegro, ein gelegentliches Pizzicato eingestreut. Farben setzen wechselnde Tempi in Gang. Orange, Zinnober, Karmin changieren in knappen Sprüngen und binden Farbbewegungen an kurze Takte. Helles Blau weitet den Bewegungsraum. Solche Bilder, z.B. „diskurs“ (2009), atmen rasch und drängen nach vorne. Warme und kalte Farben stecken nebeneinander, ineinander gerückt, wie in „götterfunken“ (2009), eine flirrende Choreografie der Flecken abstecken.

Nicht weniger wichtig sind Umrissform und Verlauf der farbigen Impulse. Sie können sich runden, biegen, tropfengleich zuspitzen oder in die Länge ziehen, können Punkt, Kreis, Klecks, Tupfer, Steg oder Triangel und weiteres sein. Alle Ausformungen kommunizieren, verflechten, verweben sich – ohne wechselseitig zu stören oder gar zu verwischen. Sie strömen und wuchern zusammen, überwinden die klassische Zeiteilung von Figur und Grund und überführen sie in ein unlösliches Gewirk.

Das wird möglich, weil jedes Bild aus mehreren Lagen, aus Arbeitsgängen farbiger Schichten entsteht. Sobald die untere Lage getrocknet ist, folgt die nächste, eine dritte, vierte... Jeder Durchgang treibt die Verdichtung, aber auch die Balance weiter. Kuhna arbeitet, wie er selber sagt, „die Leinwand vollkommen ab“ – nicht aus einem erstickenden horror vacui, sondern, im Gegenteil, um Lebensraum für farbige Mikroorganismen zu schaffen. Einen wimmelnden Verband, der wie ein intaktes biologisches System ausgewogen ist. Ästhetisch gesehen, erscheint die Bildfläche wie ein fluktuierendes Equilibrium, in das Strömen und Stauen, Stoßen und Stocken, Drängeln und Driften eingeflossen sind. Zentrale Energien ziehen Partikel an und bringen sie ins Kreisen. Auf dem Bild „der steinbruch“ (2008) überlaufen subtile Wirbel die Bildfläche und überfluten sie mit kleinteiligen, rotierenden Bewegungen. „collector“ (2009) zeigt, großteiliger, dunkel- und karminrote, orangefarbige und grüne Punkte, die, kaum fixiert, kurvig auslaufen und Wellen aufwölben. Die „atelierfarben“ (2008) krümmen sich wiederum wie gelbockere Würmer auf erdigem Grund. Helle, lichte Türkisflecken verhindern die Eindickung der massiven Musterung – einen ungewohnten koloristischen Brückenschlag zwischen Assoziationen an Schmutz und leuchtendem Himmel.

Kuhna nennt seine Malerei „strukturell“ und betont damit einen stabilen, baumeisterlichen Anteil: ein durchgehendes Farbgerüst, das in sich geschichtet, verkettet und vernetz ist. Man könnte aber auch genau so gut eine permanente Fluktuation hervorheben, die nie zur Ruhe kommt und die Bildfläche in ein Gewimmel an- und abgeschnittener Farbteilchen versetzt. Man könnte den unendlichen Bewegungsstrom beschreiben, der sich einstellt, sobald wir uns länger als einen Augenblick auf das Farbgetümmel einlassen. Auf ein kinetisches Gedrängel, das keiner trägen Netzhaut, sondern den labyrinthisch verschlungenen Unterströmungen im Fleckendschungel entspringt. Früher konnte das sogar bis ins Delirierende, Halluzinatorische reichen. Timm Ulrichs fühlte sich 1975 an psychedelische Affekte erinnert – doch Kuhnas durch und durch bildnerische Methode entzieht sich jeder Selbstäußerung. Auch die lebhafteste dynamische Triebkraft ruht letztlich in harmonischer Ausgewogenheit. Fluktuation und Konstellation bedingen sich gegenseitig.

Malt Kuhna „abstrakt“? Oder tendieren seine farbigen Tupfer, die nur Tupfer und nur Farbe sind, eher zu jenem Purismus, der seit Theo van Doesberg als „konkret“ gilt? Doch die beredeten Titel und entschiedenen Stimmungen sprechen ihre eigene Sprache, die sich jeder vorgefertigter Terminologie entzieht. Gewiss antwortet Kuhna, - danach befragt, diese Titel dienten primär der Identifikation. Dem Einwand, dann könne er die Bilder ja auch durchnummerieren, begegnet er jedoch mit äußerster Ablehnung und detaillierten Begründungen. Denn die Titel beschwören, mit einer gewissen Neigung zu Mystifikation und fremden Klang, ferne Welten oder die nächste Nähe. Sie heißen (zwei Mal indonesisch) „lubang“, „palim palim“ oder (griechisch) „mitera“, dann aber auch „atelierfarben“, „nervöser K.“ oder (vom Amateurgeologen) „verwerfungen“. Sie rücken die Bilder in eine Aura von Exotik oder nachvollziehbarem Privatissimum. Sie träumen und verhüllen Erinnerungen und geben Hinweise zur Lektüre. Die drei „evas“ (alle 2009) lassen, bei viel sinnlicher Phantasie, auf einer Mittelachse Rundungen ahnen. Wer sich mit Verstand und Vorwissen nähert, kann ein kokettes Spiel zwischen Weiß, Gelb und roten Spritzern erkennen und sich eine Deutung zwischen Unschuld und farbiger Abweichung ausdenken. „elleneller“ scheint förmlich nach einem dadaistischen Neologismus zu riechen, geht aber auf eine lange zurückliegende Bekanntschaft mit einer Künstlerin namens „Prol Elli“ zurück, deren üppige Kurven durch das Punktgewirr tanzen.

Wie oft Kuhna solche erotisch stimulierten Andeutungen einfließen lässt (oder unterlaufen), darf sein Geheimnis bleiben. Ein Blick auf das Gesamtwerk zeigt allerdings einen Rückganz exponierter Nackedeikonturen seit den 70er Jahren, bis hin zur Dezenz ahnungsvoller Muster in jüngerer Zeit. Am leichtesten fällt der Nachvollzug von Titelassoziationen bei Landschaften und Städten: „sassnitz night“ und „sassnitz morning“ gingen sogar Aquarelle vor Ort, unter dem Himmel des Städtchens auf Rügen, voraus. Alle Titel geben, auf ganz verschiedene Weise, der Betrachtung eine Irritation oder eine Richtung vor. Sie orientieren eine Stimmungslage oder poetisieren und vertiefen sie.

Die Ausstellung versammelt Bilder aus den Jahren 2005-2008. Gewiss, sollte ich sie von denen vorausgehender Jahre absetzen und einen neuen Kuhna beschreiben – ich müsste ihn erfinden. Zu den prägnantesten Eigenschaften dieses Malers gehört nicht nur eine unersättliche Neugier auf neu und immer wieder andere Interaktionen und Interdependenzen des farbigen Scheins, sondern auch ein immenser Fleiß. Beide gehen Hand in Hand. Daraus resultiert eine kontinuierliche, in Jahrzehnten angesammelte Erfahrung mit Reaktionen der Farbe, mit ihrem expansiven, räumlichen, situativen, kinetischen, aber auch emotionalen, atmosphärischen, thermischen Potential. Kuhna verwendet sie, im strengen Sinn, abstrakt wie konkret. Er nimmt aber auch die Fülle der erfahrbaren Welt in seine Bilder auf, um diese dann der Farbe, und nur der Farbe, anzuvertrauen. Indem er seine Aneignung der Welt der Farbe aussetzt, stellt er sie ihren koloristischen Wundern anheim.

Früher konnten Kleckse und Flecken klar umrissen und ornamental gebunden sein. Gibt es in den letzten Jahren überhaupt eine sichtbare Veränderung, so könnte Kuhnas Malerei weicher, gedämpfter, gelöster geworden sein. Manchmal scheint es, als wären die Pigmente aus feinerem Schrot und Korn. In Bildern wie „wetterlage“ oder „fruits diffusés“ (beide 2008)

Durchdringen die Farbsplitter sich klein- und feinteiliger als je zuvor. Das kämpferische Farbgemenge läuft nun gleichmäßiger und ruhiger ab. Selbst wo Turbulenzen ablaufen, bleibt dies eher teppichhaft gemustert als gefährlich eruptiv. In „verwerfungen“ blühen grüne Fontänen einem blauen Himmel entgegen. Auch wo Kuhna seine Gespinste weniger mikrobisch aussplittert und es bei Punkt- und Fleckanhäufungen belässt, verzichtet er meist auf harte Gegensätze. Er mildert die Buntheit mit viel Weiß. Umrisse ziehen sich, von Ausnahmen abgesehen, tiefer in ihre Umhüllung zurück. Kaum einmal zuvor war Kuhnas Malerei in soviel sanfte Entfaltung und homogene Ausgewogenheit gebettet. Legt sich, wenn schon kein Schatten, so doch das milde Licht der Altersweisheit über die Bilder?

Was sämtliche Bilder, über fünf Jahrzehnte hinweg, verbindet, ist die sinnliche, höchst persönliche Verwurzelung. Deshalb strahlt jede Leinwand ihre eigene Stimmung aus: einen vitalen Lyrismus, vom bunten Konfettiregen bis zur melancholischen Dämmerung. Denn Kuhnas recherche des couleurs bringt gerade keine Farbexerzitien hervor. Sie ist erlebnisgesättigt, subjektiv, ja, sogar expressiv, solange wir darunter keine ausfahrende Gestik, sondern die leidenschaftliche, manische Aktion der befreiten Farbe auf ihrem kleinsten Nenner verstehen: Punkt und Fleck.

Manfred Schneckenburger, 2009